"Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!"
Direkt nach den Seligpreisungen richtet Jesus im Lukasevangelium eine revolutionäre Aufforderung an seine Jünger: Sie sollen alle Menschen wie ihre Geschwister lieben, sogar wenn sie sich feindlich verhalten. Jesus ist überzeugt: Wir sind Geschwister, weil wir einen einzigen Vater haben, der immer bei seinen Kindern sein will. Dieser Vater will mit uns in Beziehung stehen, erinnert uns an unsere Verantwortung, aber zur gleichen Zeit liebt er uns, will sich um uns kümmern, uns heilen und stärken. Seine Liebe ist mütterlich, mitfühlend und zärtlich.
Gott wendet sich mit seiner Barmherzigkeit an jedes menschliche Geschöpf - mit all seiner Schwäche. Er will sogar besonders für die da sein, die ausgegrenzt und abgelehnt werden. Barmherzigkeit ist eine Liebe, von der das Herz ganz ausgefüllt wird und die überströmt auf unsere Nächsten, unsere Nachbarn wie auch auf Fremde, auf alle Menschen um uns.
Wir sind Kinder Gottes und können ihm daher in seinem Wesen ähnlich sein: in Liebe, Offenheit, Geduld.
"Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!"
Leider erfahren wir im persönlichen wie im öffentlichen Leben, dass Misstrauen, Rücksichtslosigkeit, Vorurteile, Fremdenangst und Groll zunehmen und zu Konflikten und sogar Kriegen führen.
Als Christinnen und Christen können wir Zeugnis geben: Wenn wir uns von inneren und äußeren Zwängen befreien, können wir die brüchigen oder zerbrochenen Beziehungen in der Familie, am Arbeitsplatz, in der Kirchengemeinde, in der Partei wieder neu aufbauen.
Wenn wir jemandem etwas Böses getan haben, sollten wir den Mut aufbringen und ihn um Verzeihung bitten. Wagen wir einen Neuanfang. Darin finden beide Seiten ihre Würde.
Und wenn uns jemand wirklich geschadet haben sollte, versuchen wir zu vergeben. Geben wir ihm in unserem Herzen Raum, um Heilung zu ermöglichen!
Aber was bedeutet es zu vergeben?
„Vergebung bedeutet nicht, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen. Vergebung ist auch nicht Schwäche (…). Vergebung besteht nicht darin, ein schwerwiegendes Vergehen zu bagatellisieren oder Schlechtes gut zu heißen.
Vergebung ist auch nicht mit Gleichgültigkeit zu verwechseln. Die Vergebung ist vielmehr ein bewusster Akt des Willens, der deshalb in voller Freiheit erfolgt. Er besteht darin, jeden Menschen so anzunehmen, wie er ist, auch wenn er uns Unrecht angetan hat. Auch Gott nimmt uns Sünder ja mit unseren Schwächen und Verfehlungen an.
Vergebung heißt, auf eine Verletzung nicht mit einer Verletzung zu antworten, sondern zu tun, was Paulus sagt: ‚Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute!‘ (Röm 12,21)“ 1)
Diese Offenheit des Herzens kommt nicht von ungefähr. Wir müssen sie täglich neu erobern, unermüdlich versuchen, immer mehr zu Söhnen und Töchtern Gottes zu werden. Sie ist vor allem ein Geschenk des Vaters, den wir immer darum bitten können und sollen.
"Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!"
So erzählt M., eine junge Frau aus den Philippinen: „Ich war erst elf Jahre alt, als mein Vater umgebracht wurde. Es gab keinen Prozess, denn wir waren arm. Ich habe Jus studiert, um die Mörder meines Vaters ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Aber Gott hatte etwas anderes mit mir vor: Durch eine Kollegin habe ich Menschen kennengelernt, die ernst machen mit dem Leben nach dem Evangelium. Damit habe auch ich angefangen.
Eines Tages bat ich Jesus, mir zu zeigen, wie ich seine Worte: ‚Liebt eure Feinde‘ 2) in die Tat umsetzen könnte. Ich spürte, dass ich in mir immer noch Hass auf die Mörder meines Vaters hatte. Am Tag darauf bin ich in der Arbeit dem Anführer jener Gruppe begegnet. Ich habe ihn mit einem Lächeln begrüßt und nach seiner Familie gefragt. Das hat ihn verblüfft, aber ich musste auch selbst über mich staunen.
Der Hass in mir begann sich aufzulösen, sich in Liebe umzuwandeln. Das war aber nur der erste Schritt: Die Liebe ist kreativ! Ich beschloss, jedem Mitglied jener Gruppe zu sagen, dass ich ihm vergeben hatte. Dazu bin ich mit meinem Bruder zu ihnen gegangen, um die zerrissene Beziehung neu zu knüpfen und ihnen zu zeigen, dass Gott sie liebt. Einer von ihnen hat uns für seine Tat um Verzeihung gebeten und um Gebete für ihn und seine Familie.“
Letizia Magri
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- Chiara Lubich, Kommentar zum Wort des Lebens, September 1999
- Matthäus 5,44 und Lukas 6,26
© Alle Rechte an der deutschen Übersetzung beim Verlag NEUE STADT, München
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