In seinem letzten Gebet erbittet Jesus etwas, das dem Vater im Himmel ganz besonders am Herzen liegt. Gott hat ja die Menschheit als seine Familie geschaffen und möchte alles mit ihr teilen, sogar sein göttliches Leben. Und so wie Eltern sich nichts mehr wünschen, als dass sich die Kinder verstehen, einander helfen und gut miteinander auskommen, so ist es von Ewigkeit her der tiefste Wunsch Gottes, seine Familie vereint zu sehen in der Liebe zu ihm und zueinander.
Die Schöpfungsgeschichte berichtet das Gegenteil: Der Mann beschuldigt die Frau1, Kain bringt seinen Bruder um2, Lamech prahlt mit seiner maßlosen Rachsucht3 und Babel verursacht die Verwirrung der Sprachen und die Zerstreuung der Völker4. Der Plan Gottes scheint gescheitert.
Doch Gott versucht es erneut und setzt alles daran, seine Familie wieder zu vereinen. Er beginnt mit Noach, mit der Berufung Abrahams, mit der Auserwählung eines Volkes. Und schließlich sendet er seinen Sohn mit dem Auftrag, seine zerstreuten Kinder zu vereinen, die verirrten Schafe zusammenzuführen, die Mauern der Trennung einzureißen, die Feindschaften zu beenden und ein einziges, neues Volk zu schaffen5.
Gott gibt seinen Traum von der Einheit nie auf. Und so bittet Jesus den Vater um das Größte, das er erbitten kann:
„Alle sollen eins sein.“
Gott ist Liebe – nicht nur weil er seine Geschöpfe liebt. Er ist in sich Liebe, reines Geschenk in der Hingabe der drei göttlichen Personen aneinander.
Als er die Menschen nach seinem Abbild geschaffen hat, hat er ihnen diese Fähigkeit zur Beziehung mitgegeben, zu einem Leben der Hingabe. Der Satz, den wir in diesem Monat leben wollen, geht so weiter: „Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein.“ Vorbild für unsere Einheit ist die Einheit, wie sie zwischen dem Vater und dem Sohn existiert. Verwirklichen können wir sie nur, weil das „wie“, von dem Jesus spricht, auch ein „weil“ ist: Wir können diese Einheit erreichen, „weil“ der Vater und der Sohn uns in ihre Einheit mit hineinnehmen.
„Alle sollen eins sein.“
Um dieses große Werk zu vollbringen, hat sich Jesus auf uns eingelassen. Er hat alle unsere Trennungen und Sünden auf sich genommen und sie ans Kreuz getragen. Damit hat er uns auch den Weg zur Einheit gezeigt: „Wenn ich über die Erde erhöht bin, werde ich alle zu mir ziehen.“6 Im Geheimnis seines Todes und seiner Auferstehung hat er alles in sich vereint7, hat die durch die Sünde zerbrochene Einheit wiederhergestellt. Er hat die Familie des Vaters neu zusammengeführt und uns wieder zu Geschwistern gemacht.
Jesus hat seinen Auftrag erfüllt. Jetzt liegt es an uns, ja zu sagen zu seinem Gebet:
„Alle sollen eins sein.“
Was können wir tun? Zunächst einmal können wir uns dieses Gebet wirklich zu eigen machen, unsere Lippen und unser Herz Jesus zur Verfügung stellen und jeden Tag mit Vertrauen diese Worte wiederholen. Die Einheit ist ein Geschenk, um das man vertrauensvoll und unermüdlich bitten sollte.
Darüber hinaus sollte die Einheit immer jenes Ziel sein, auf das unser Denken und Handeln ausgerichtet ist. Wenn sie die größte Sehnsucht unseres Gottes ist, sollte das auch für uns gelten. Wir könnten uns also immer wieder einmal vor einer Entscheidung, einer Handlung die Frage stellen: Fördert das die Einheit?
Nicht zuletzt sind wir eingeladen, genau dahin zu gehen, wo die Uneinheit am deutlichsten sichtbar wird: Streit in der Familie, Unstimmigkeiten bei der Arbeit, in der Gemeinde, unter den Kirchen. Wir sollten vor den Spannungen und Missverständnissen nicht davonlaufen oder sie ignorieren, sondern unsere Liebe einbringen, indem wir zuhören, achtsam sind oder die Schmerzen mit den anderen teilen.
Vor allem sollten wir mit denen in Einheit leben, die dazu bereit sind, dem Wunsch Jesu zu entsprechen. Dafür sollten wir den Missverständnissen und Meinungsverschiedenheiten nicht zu viel Gewicht beimessen, uns auch einmal mit dem weniger Vollkommenen zufriedengeben, wenn es der Einheit dient, und uns an der Verschiedenheit freuen, weil Einheit nichts mit Gleichförmigkeit zu tun hat.
Es mag sein, dass uns diese Ausrichtung auch einmal ans Kreuz bringt. Aber das ist eben der Weg, den Jesus gewählt hat, um die Menschheitsfamilie zusammenzuführen.
Fabio Ciardi
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1) Genesis 3,12; 2) Genesis 4,8; 3) Genesis 4,23f; 4) Genesis 11,1-9; 5) vgl. Epheser 2,14-16; 6) Johannes 12,32; 7) vgl. Epheser 1,10.
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