Warum liegt uns dieser Satz Jesu so am Herzen und taucht als „Wort des Lebens“ immer wieder auf? Wohl auch, weil er ein Herzstück des Evangeliums ist. Denn es handelt sich um die Worte, die der Herr an uns richten wird, wenn wir am Ende vor ihm stehen werden zur wichtigsten Prüfung unseres Lebens, auf die wir uns jedoch Tag für Tag vorbereiten können.
Jesus wird uns fragen, ob wir denen, die Hunger und Durst hatten, zu essen und zu trinken und den Nackten Kleidung gegeben haben; ob wir Kranke oder Gefangene besucht haben … Es geht um kleine Gesten, die aber Ewigkeitswert haben. Und nichts ist klein, was aus Liebe geschieht, was wir für Jesus tun.
Denn Jesus war den Armen und Ausgegrenzten nicht nur nahe, hat Kranke nicht nur geheilt und Leidende aufgerichtet, sondern er ist ihnen mit einer ganz besonderen Liebe begegnet: Er hat sie Schwestern und Brüder genannt und sich mit ihnen voll und ganz identifiziert.
Auch heute ist er gegenwärtig in den ungerecht Verfolgten, den Arbeitssuchenden, den Notleidenden, den Flüchtlingen. Wie viele Menschen um uns herum leiden und bitten – oft ohne Worte – um unsere Hilfe! In ihnen zeigt sich Jesus, der uns um Zuwendung bittet und uns dazu einlädt, uns neue, zeitgemäße „Werke der Barmherzigkeit“1 auszudenken.
Das gilt für alle! Wenn ich jenem alten und verwirrten Menschen beistehe, unterstütze ich Jesus. Wenn ich einem Flüchtlingskind Sprachunterricht gebe, unterrichte ich Jesus! Wenn ich der Mutter beim Putzen helfe, helfe ich Jesus! Wenn ich einem Strafgefangenen Hoffnung mache, wenn ich jemanden im Leid tröste, wenn ich einer Person, die mich verletzt hat, vergebe: Immer habe ich es mit Jesus zu tun. Und bei jeder dieser Gelegenheiten schenke ich nicht nur den anderen Freude, sondern erfahre sie auch selbst. Wenn wir geben, empfangen wir, erfahren Fülle und Glück, weil wir – vielleicht ohne es zu wissen – Jesus begegnet sind.
In der Erfahrung von Chiara Lubich hat dieses „Wort des Lebens“ von Anfang an eine wichtige Rolle gespielt. Sie schreibt: „Unsere bisherige Auffassung vom Nächsten und von der Liebe zu ihm wurde überholt. Wenn in jedem Menschen auf irgendeine Weise Christus war, durfte man keinen benachteiligen oder bevorzugen. Die Einteilung in einheimisch oder fremd, alt oder jung, schön oder hässlich, sympathisch oder unsympathisch, arm oder reich, war damit hinfällig. Christus stand hinter jedem, war in jedem. Und der Bruder, die Schwester waren tatsächlich ein ‚anderer Christus‘… Ein solches Leben hat uns gezeigt, dass der Nächste für uns der Weg zu Gott ist. Der Bruder, die Schwester wurden für uns gleichsam zum Tor, um Gott zu begegnen. Schon in der ersten Zeit dieses neuen Lebens erfuhren wir abends beim Gebet oder bei der Betrachtung eine tiefe Vereinigung mit Gott, wenn wir ihn den ganzen Tag über in den Schwestern und Brüdern geliebt hatten. Wer gab uns diesen Trost, diese neue, göttliche, innere Fülle, wenn nicht Christus, der das Wort seines Evangeliums verwirklichte: ‚Gebt, dann wird auch euch gegeben werden‘2. Den Tag über hatten wir ihn in unseren Nächsten geliebt, und nun gab er uns seine Liebe zu spüren.“3
Fabio Ciardi
1) Mit dem Begriff „Werke der Barmherzigkeit“ wird in der christlichen Theologie traditionell eine beispielhafte Aufzählung von Handlungen aus Nächstenliebe bezeichnet, die in der Bibel begründet sind. Der Katholische Katechismus unterscheidet zwischen sieben geistlichen (z. Bsp. die Trauernden trösten, die Lästigen geduldig ertragen …) und sieben leiblichen (z. Bsp. Obdachlose beherbergen, Nackte bekleiden …) „Werken der Barmherzigkeit“.
2) Lukas 6,38; 3) Chiara Lubich, Im Menschen Christus erkennen, München 1980, S. 88f.
© Alle Rechte an der deutschen Übersetzung beim Verlag NEUE STADT, München
Das „Wort des Lebens“ erscheint auch in der Monatszeitschrift NEUE STADT.
Eine kostenlose Probenummer oder ein Abonnement (jährlich € 36,-) können Sie bestellen bei: Redaktion NEUE STADT, Hainbuchenstraße 4, 86316 Friedberg, redaktion@neuestadt.com