„Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben.“ (Matthäus 10,8)
Matthäus berichtet, wie Jesus diese Aufforderung an seine Jünger, seine „Gesandten“ richtet. Er hatte Leid und Orientierungslosigkeit der Menschheit gesehen und Mitleid mit ihr. Er war gekommen, um den Menschen Erlösung, Heilung und Befreiung zu bringen. Nun sollten die Apostel sein Wirken vervielfachen. Sie hatten sich um ihn geschart, seinen Worten zugehört und Sinn und Sendung ihres Lebens gefunden. Jetzt machten sie sich auf, um Zeugnis von Gottes Liebe zu jedem Menschen zu geben.
„Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben.“
Was genau hatten sie „umsonst“ empfangen, um es weiterzugeben? Durch die Worte, Gesten und Entscheidungen Jesu, durch sein ganzes Leben hatten sie die Barmherzigkeit Gottes erfahren. Trotz all ihrer Schwächen und Grenzen gab er ihnen das neue Gebot der gegenseitigen Liebe. Vor allem aber wurde ihnen zuteil, was Gott jedem Menschen schenken möchte: sich selbst, seine Gemeinschaft auf den Wegen des Lebens, sein Licht für ihre Entscheidungen. Das sind Gaben von unermesslichem Wert, die alle unsere Möglichkeiten, uns erkenntlich zu zeigen, übersteigen - wir erhalten sie also umsonst. Sie wurden den Aposteln und bis heute allen Christinnen und Christen gegeben, damit sie diese auch jedem vermitteln, der ihnen begegnet.
„Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben.“
Chiara Lubich* schrieb dazu: „Im Evangelium lädt uns Jesus immer wieder dazu ein zu geben: den Armen1, dem, der bittet und dem, der sich etwas ausleihen möchte2. Er fordert uns dazu auf, dem Hungrigen etwas zu essen zu geben3 und dem, der um ein Hemd bittet, sogar den Mantel4. Er möchte, dass wir umsonst geben5. Und er selbst hat als Erster gegeben: den Kranken die Gesundheit, den Sündern die Vergebung, uns allen sein Leben6. Dem selbstsüchtigen Trieb, Dinge anzuhäufen, setzt er die Großzügigkeit entgegen. Gegen die Fixierung auf die eigenen Bedürfnisse stellt er die Aufmerksamkeit für die anderen. Als Gegenentwurf zu einer Kultur des Habens lehrt er die Kultur des Gebens. […]
Das Wort des Lebens dieses Monats hilft uns, wieder neu zu entdecken, welchen Wert jede unserer Handlungen haben kann. Unsere Tätigkeiten im Haus, auf dem Feld, am Arbeitsplatz, das Erledigen der Büroarbeiten, die Hausaufgaben und das Engagement in Gesellschaft, Politik und Kirche: Alles kann zu einem aufmerksamen und zuvorkommenden Dienst am Nächsten werden. Die Liebe wird uns einen neuen Blick geben für das, was die Menschen um uns herum benötigen. Sie wird uns helfen, mit Kreativität und Großzügigkeit Lösungen zu finden. Und was wird geschehen? Materielle Dinge werden wie in einem großen Kreislauf in Bewegung geraten, denn Liebe ruft Liebe hervor. Und Freude wird sich vervielfältigen, denn ‚geben ist seliger als nehmen‘7.”
„Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben.“
Die Logik Jesu und des Evangeliums ist immer: empfangen – um zu teilen, nie um für sich selbst etwas anzuhäufen. Das bedeutet, erst einmal anerkennen, was wir empfangen haben: Energie, Talente, Fähigkeiten, materielle Güter - um sie dann in den Dienst anderer zu stellen.
So schreibt der Wirtschaftswissenschaftler Luigino Bruni: „Unentgeltlichkeit ist eine Dimension, die jede Handlung begleiten kann. Deshalb ist sie nicht ‚umsonst‘, sondern genau das Gegenteil, denn Unentgeltlichkeit bedeutet nicht einen Preis ‚Null‘, sondern einen unendlichen Wert, auf den man nur mit einer anderen unentgeltlichen Handlung antworten kann.“8 Die Unentgeltlichkeit übersteigt also die Logik des Marktes, des Konsumdenkens und des Individualismus und öffnet für das Teilen, die Gemeinschaft, die Geschwisterlichkeit, die neue Kultur des Gebens.
Die Erfahrung bestätigt, dass uneigennützige Liebe tatsächlich eine Provokation darstellt und unerwartete positive Folgen für die Gesellschaft haben kann. Wie eine Initiative aus den Philippinen, die es seit 1983 gibt. Damals war das Land in einer politisch und sozial schwierigen Situation. Einige junge Leute verkauften, was sie nicht unbedingt brauchten, auf dem Markt. Mit dem kleinen Gewinn eröffneten sie das Sozialzentrum „Bukas Palad“9, auf Deutsch „Offene Hände“. Ärzte beteiligten sich unentgeltlich am Dienst. Viele öffneten Herz und Hände und die Türen ihrer Häuser. Die breit gefächerte soziale Initiative existiert heute in mehreren Städten der Philippinen. Ihr wichtigstes Ziel ist, dass die Armen nicht passive Empfänger sind, sondern aktiv mitarbeiten. So konnten sie ihre Menschenwürde wiederfinden und Beziehungen aufbauen, die von Wertschätzung und Solidarität geprägt sind. Ihr Beispiel und Einsatz helfen vielen, aus der Armut herauszukommen und Verantwortung für das Zusammenleben zu übernehmen.
Letizia Magri
1) vgl. Markus 10,21
2) vgl. Matthäus 5,42
3) vgl. Markus 6,37
4) Matthäus 5,40
5) vgl. Matthäus 10,8
6) vgl. Markus 10,45
7) Apostelgeschichte 20,35
8) http://www.edc-online.org/it/pubblicazioni/articoli-di/luigino-bruni/5141-gratuita.html
9) http://bukaspaladfoundation.org/
* 1920 – 2008, Gründerin der Fokolar-Bewegung
© Alle Rechte an der deutschen Übersetzung beim Verlag NEUE STADT, München Das „Wort des Lebens“ erscheint auch in der Zeitschrift NEUE STADT. Eine kostenlose Probenummer oder ein Abonnement (jährlich € 38,-) können Sie bestellen bei: Redaktion NEUE STADT, Hainbuchenstraße 4, 86316 Friedberg, redaktion@neuestadt.com