Wie (über)lebt man im Krieg?

Valquiria Oliveira, Psycho- und Logotherapeutin, lebt in Wien in einer Fokolar-Gemeinschaft. Als Therapeutin hat sie nach dem Kriegsausbruch Menschen in der Ukraine per Telefon und Internet begleitet. Aber dann wollte sie die Ukrainer auch persönlich treffen und war mehrere Male dort. Valquiria berichtet von ihren Begegnungen und Erlebnissen im Krieg. 

Valquiria, Du warst inzwischen mehrmals in der Ukraine. Warum hast du dich entschieden, dorthin zu gehen? 

Seit Beginn des Krieges habe ich Menschen in der Ukraine per Internet begleitet. Das war möglich, weil die österreichische Regierung bis Juli 2022 Telefongespräche in das Kriegsgebiet finanziert hat. So konnte ich einige Menschen, die Italienisch sprechen konnten, vor allem nachts begleiten, wenn sie in die Bunker mussten, und erlebte mit ihnen gemeinsam die Ungewissheit, die Angst.  

Aber ich hatte das Gefühl, dass ich diese Menschen auch mal vor Ort treffen müsste, um ihr Leben, ihren Glauben und ihre Erfahrungen zu teilen. So war ich dreimal in Mukatschewo und L’viv. Im Namen der Wiener Fokolar-Gemeinschaft brachte ich warme Kleidung, Medikamente, Geld, Spielzeug, Hygieneartikel, aber vor allem unsere Liebe und Solidarität dorthin. So konnten wir den Krieg für einige Momente gemeinsam vergessen. 

Trotz des Krieges ist der Glaube der Menschen dort an die Liebe Gottes ungebrochen. Ich habe ihnen vor allem zugehört. Und sie erzählten mir starke Erfahrungen von Verlust und Leid. Die Ukrainer leben eine heroische Hingabe und gegenseitige Liebe, genau wie die ersten Christen, die ein Herz und eine Seele waren. Nichts ist für sie vorhersehbar oder planbar. 

Was hat dich am meisten beeindruckt? 

Immer wieder erreichten uns auch in den Tagen meines Aufenthaltes Nachrichten von der Front. Eine Krankenschwester bat uns um Schüsseln, weil die Soldaten kein Essgeschirr hatten, um ihre Suppe zu löffeln. Sie erzählte mir auch, dass die Ärzte an der Front die ständigen Amputationen leid sind. Tatsächlich sah ich immer wieder junge Männer, die auf Krücken gingen. Wenn ich in ihre Gesichter schaute, sah ich, dass es um mehr als um rein körperliche Angriffe und Verletzungen ging.  

Eine Mitarbeiterin der Caritas sagte mir: „Eine meiner Aufgaben ist es, dafür zu sorgen, dass die humanitäre Hilfe dort ankommt, wo die Menschen nichts mehr haben. Das erfordert großen Mut von denjenigen, die den Transport übernehmen. Ich habe gelernt, nicht zu zögern. Wenn ich nicht sofort handle, kann es zu spät sein. Wir sprechen nicht viel über den Krieg. Und doch denke ich ständig darüber nach, wie wir als Weltgemeinschaft es so weit kommen lassen konnten. Dass ein Leben nichts zählt, dass Menschen in einem System aufwachsen, das sie zu solchen Grausamkeiten fähig macht. Es hat mich traurig gemacht, dass die russische Armee beim Rückzug von Kiew ihre Soldaten oft einfach tot zurückließ. Es ist bewegend zu sehen, wie die Menschen versuchen, Trost in Gott zu finden und um das Wunder des gerechten Friedens zu beten.“  

Was für Folgen hat all das, was Du gesehen und erlebt hast, für Deine Beziehung zu Gott? 

Ich kann mich identifizieren mit dem, was mir jemand aus der Gemeinschaft dort gesagt hat. Sie war in einem Interview gefragt worden, ob der Krieg ihre Beziehung zu Gott verändert habe und ob ihr Glaube nicht durch all das Leid ins Wanken geraten sei. Ihre Antwort:  

„Zunächst habe ich mich ganz in die konkreten Hilfsdienste gestürzt, und sie haben eine Dynamik entwickelt, die mich mitgerissen hat. Aber nach einigen Wochen merkte ich, dass ich aufpassen musste. Ich wollte auch diese Zeit ganz bewusst mit Gott leben. Und Aktivismus – auch wenn er gut gemeint ist – kann das Innenleben völlig überdecken. Dann besteht die Gefahr, dass man ausbrennt, und das wollte ich nicht zulassen. Ich dachte darüber nach, was ich in dieser Zeit erlebt hatte. Ich spürte, dass mir andere Dinge wichtiger geworden waren als Gott selbst. Und ich habe mich entschieden, ihn und nur ihn wieder an die erste Stelle in meinem Leben zu setzen. Mir wurde neu bewusst, dass auch die Spiritualität der Fokolar-Bewegung, die mich dazu gebracht hatte, mein Leben ganz Gott zu geben, während des Krieges entstanden war und dass Gott auch im größten Schrecken Neues hervorbringen kann. Trotzdem habe ich innerlich noch gerungen. Dann verstand ich einen Satz, den ich mal gehört hatte: ‚Sucht mich, wo ihr mich finden könnt, und bringt mich dorthin, wo ihr mich nicht finden könnt.’ Das ist die treibende Kraft meines täglichen Lebens geworden, das ich nicht nur allein für mich, sondern auch in Gemeinschaft mit anderen lebe. So kann ich ehrlich sagen: Der Krieg hat meinen Glauben und meine Beziehung zu Gott erneuert.  

Welche Botschaft würdest Du uns heute ans Herz legen? 

Jemand erzählte mir: “Heute begehen wir den 1.000. Tag des russischen Einmarsches: 1.000 Tagesanbrüche ohne Ruhe. 1.000 Nächte, die vom Klang der Sirenen und Explosionen unterbrochen werden. 1.000 Momente der Angst, aber auch der neu gewonnenen Hoffnung. Jeder Tag bringt Trauer um diejenigen, die nicht mehr unter uns sind, und Stolz auf jene, die weiterkämpfen. Eure Nähe war für mich in den dunkelsten Momenten ein Licht, eine Unterstützung, die ich nie vergessen werde. Danke, dass ihr eine Quelle der Stärke und des Glaubens in meinem Leben seid. Ich werde euch immer in meinen Gedanken und Gebeten behalten. Mit Zuneigung und Dankbarkeit!” 

„Zeigen Sie der Welt, was wirklich wertvoll ist.“ - “Der Mensch will nicht leiden oder sinnlos sterben.” - Das sind einige der Botschaften, die ich erhalten habe. 

Um Frieden zu schaffen und zu erhalten, müssen Kulturen, Traditionen, Ethnien, Sprachen und Religionen respektiert werden. Wir lernen mühsam die Fähigkeit zum ZUHÖREN, zum DIALOG und zur Versöhnung, aber ich glaube, dass es nur durch diese Gegenseitigkeit möglich ist, Bedürfnisse zu äußern, Grenzen anzuerkennen und einen Sinn in der Realität der Gegenwart zu finden, jenseits der „zerstörten Träume, die auch durch das Trauma des Krieges entstanden sind. 

Valquiria Oliveira, Psychotherapeutin und Logotherapeutin, Wien