Sinfonisches Freiluftkonzert an einem sozialen Brennpunkt in Rom: Christian Kewitsch dirigiert das A-Orchester des Hamburger Christianeums.
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Beziehungsaufbau per Taktstock

104 Augenpaare richten sich auf ihn. Spürbar konzentriert und etwas angespannt sitzen die Schüler da. Christian Kewitsch hebt den rechten Arm mit dem Taktstock, hält den Blickkontakt zu den Musikern. Eine minimalistische Handbewegung, die Musik setzt ein. 

Das Sommerkonzert im Christianeum, einem Gymnasium im Hamburger Westen, beginnt mit einem besonderen Stück. „Kein typisches Eröffnungs-Stück“, wird Kewitsch später bestätigen. Mit der Melodia en La menor – Canto de Octubre für Streichorchester von Astor Piazzolla gedenkt das A-Orchester eines verstorbenen Lehrers und einer verstorbenen Mitschülerin. „Das ist natürlich sehr emotional, das hat uns alle angefasst.“

Emotionen spielen an diesem Abend mehrfach eine Rolle. Sie gehören für Kewitsch ebenso untrennbar zur Musik wie Beziehungen. Der Applaus für die beiden brillanten Solisten – Viola und Trompete – ist nicht nur höflicher Pro-Forma-Beifall, sowohl das Publikum als auch die Orchestermitglieder feiern die beiden Musiker nahezu frenetisch und mit viel Herz. Und auf dem Dirigentenpult steht Christian Kewitsch mit strahlendem Gesicht und klatscht begeistert mit. Da ist sie spürbar, die gemeinsame Freude über das Erreichte.

"Ich bin nicht autoritär, aber ich muss eine Autorität sein"

Die gehört auch in die Proben. Aus Sicht des Dirigenten gesprochen: „Es geht darum, mit einer Gruppe ein Ziel zu erreichen und gleichzeitig jeden einzelnen im Blick zu behalten.“ Wie er das erreicht, obwohl jeder Schüler, jede Musikerin so völlig unterschiedliche Voraussetzungen mitbringt? Immerhin sprechen wir von Jugendlichen, denen eine halbe Stunde üben pro Woche völlig reicht, und von denen, die beim Bundeswettbewerb Jugend musiziert einen zweiten Platz belegen. Kewitschs Antwort: „Indem ich die Jugendlichen fordere und sie gleichzeitig begeistere. Das funktioniert aber nur, wenn die Schüler es an mir ablesen können. Sie merken, ob ich das bin. Ich bin nicht autoritär, aber ich muss eine Autorität sein.“ 

Sinfonisches Freiluftkonzert an einem sozialen Brennpunkt in Rom: Christian Kewitsch dirigiert das A-Orchester des Christianeums.

 

Diese Reise ist ein Thema für sich. Anfang der 2000er Jahre hatte Kewitsch den römischen Pianisten Paolo Vergari kennengelernt, der wie Kewitsch auch in einer Fokolar-Gemeinschaft lebt. Die beiden hatten gemeinsam musiziert, eine Freundschaft war gewachsen – und aus dieser entstand die Idee zu einer Konzertreise des A-Orchesters nach Rom mit Auftritten im Goethe-Institut, Begegnungen mit einer römischen Schule und einem Freiluft-Konzert auf dem Dach einer Turnhalle in einem sozialen Brennpunkt. „Geplant war das für 2020“, berichtet der Hamburger. Corona hat einen Strich durch diese Rechnung gemacht. Aber was wäre ein Musiker ohne Beharrlichkeit? Kewitsch ging das Projekt 2024 erneut an, diesmal klappte es.

Dazu gehört auch mal eine Entschuldigungsmail nach Feierabend

Wie gut! Das Feedback der Jugendlichen, der Blick in ihre Gesichter, wenn sie von Rom berichten, das spiegelt ihre Begeisterung wider. Das gemeinsame Erlebnis hat ihren Zusammenhalt gestärkt, das sagen sie auch selber in einem von ihnen erstellten Film über ihre Reise.

Zurück in die alltäglichen Niederungen eines Orchesters, die Proben. „Da war nicht immer alles toll, es gab auch Probleme, aber mir war es wichtig, immer wieder neu anzufangen, den Schülern zu vertrauen, mich ihnen damit ein Stück auszuliefern, und meine ,Pubertiere‘ einfach gern zu haben“, sagt Kewitsch und lacht. Dazu gehörte für den Musiklehrer auch mal, nach Feierabend noch eine Entschuldigungsmail an seine Orchester-Schüler zu schicken, weil er in der Probe zu ungeduldig war oder etwas gesagt hat, was er im Nachhinein bedauert. 

Das Mädchen fühlte sich vom Lehrer wahrgenommen

Manchmal musste er auch sich selbst und seine Wahrnehmung in Frage stellen lassen: „Ein Schüler hat mich fast zur Verzweiflung gebracht, weil er immer leicht daneben spielte. Ich war drauf und dran, ihm zu sagen: Warum übst du denn nicht mal? Aber dann habe ich ihn erstmal nach seiner Wahrnehmung gefragt.“ Es kam heraus, dass die Mitmusiker rechts und links neben ihm ihn mit leichten Ungenauigkeiten immer aus dem Tritt brachten. Der gebürtige Aachener schildert eine weitere Episode: „Eine Schülerin war zu einem Informationsbesuch bei uns an der Schule. Sie kam ein zweites Mal, und ich wusste ihren Namen noch.“ Das sei für das Mädchen der Ausschlag gewesen, sich fürs Christianeum zu entscheiden, habe ihm die Mutter später berichtet. „Sie fühlte sich wahrgenommen.“

Wahrnehmung ist eine Tugend, die ein Dirigent ohnehin im Übermaß benötigt. So beobachtet im Sommerkonzert. Sind die Geigen ein bisschen zu schnell? Kewitsch bremst sie mit einem Blick und einer kleinen Bewegung seiner linken Hand. Die Musiker reagieren sofort, Sensibilität ist eindeutig auf beiden Seiten vorhanden. „Klar, in einem Orchester muss man aufeinander hören“, bekräftigt Kewitsch – für ihn eine Binsenweisheit. Für Jugendliche in der Pubertät aber wahrscheinlich nicht immer so selbstverständlich. 

Abschiedskonzert: Christian Kewitsch dirigiert ein letztes Mal das A-Orchester des Hamburger Gymnasiums Christianeum.

 

Das Sommerkonzert neigt sich dem Ende zu. Die Eltern haben ein Buffet organisiert, damit Schüler, Lehrer und Publikum den Abend nach dem Konzert noch nett ausklingen lassen können. Christian Kewitsch verabschiedet sich vom Dirigentenpult mit einem Satz in Richtung Kollegen: „Ein ganz großer Wert unserer Orchester-Arbeit ist, dass wir es gemeinsam machen.“ Zuvor hat er das Publikum noch um Entschuldigung für den begrenzten Platz gebeten, „aber das Orchester ist inzwischen so groß, dass es nicht mehr auf die Bühne passt“. Als er es 2011 übernommen hat, gehörten 35 Schülerinnen und Schüler dazu. Jetzt sind es 104. Ein weiterer Beweis dafür, dass die Kombination von Musik und authentischen Beziehungen attraktiv ist.

Und wie geht es jetzt für Christian Kewitsch weiter? „Ich möchte gerne wieder Cello unterrichten“, sagt der 66-Jährige. „Einzelunterricht, Kammerorchester – ich liebe  Kammermusik.“ Das Angebot für Coachings für die Begleiter von Schulorchestern wäre eine weitere Idee. Und seine Erfahrungen in der Orchesterleitung aufschreiben. Musik bleibt einfach sein Thema. Kein Wunder, denn „ich wüsste nicht, was es mit mir macht, wenn ich keine Musik machen könnte“.

von Tina Rudert