Navid Kermani

 Der Titel ist zweideutig: Ist das Staunen nun "ungläubig" oder der Autor, Navid Kermani? Vermutlich ist beides irgendwie gemeint, aber ganz sicher ist es das zweite nicht. Wie das? Navid Kermani ist ein deutsch-iranischer Schriftsteller und Publizist. 2015 wurde ihm der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zuerkannt. Navid Kermani ist Muslim. Hier schreibt er über christliche Kunstwerke, zumeist über die ganz alte "Schinken". Manch' einer kann dem heute nicht mehr viel abgewinnen, die sind zu alt, das ist zu weit weg. Kerman schaut sie staunend, manchmal stundenlang, häufig zusammen mit "mein(em) katholischen Freund", an. Beide sind Kenner, der eine Orientalist, Islamforscher und Korankenner, der andere - er wird nicht näher vorgestellt - auf jeden Fall ein Kenner christlicher Kultur und Geschichte. Man wird den Verdacht nicht los, dass der Freund ein wenig in der Rolle eines (fiktiven?) Wächters über die Rechtmäßigkeit des Gedachten fungiert - was ja ein kluger, nebenbei gesagt, auch belustigender Schachzug wäre. Betrachtet, befragt, unkonventionell gedeutet werden Kunstwerke von Rembrandt, Botticelli und immer wieder Caravaggio. Es folgen sehr persönliche Sichtweisen und Assoziationen, geprägt von einem frommen Großvater, der seinen Gebetsteppich gern in einer Kirche ausrollte, aber hineingesprochen in unsere heutige Zeit. Viele Themen werden berührt - ernste und sehr ernste (der Tod der Mutter), aber auch leichte, oft mit einem Augenzwinkern (die Kindheit Jesu, von der man in der Bibel wenig liest) oder über die Lust eines leidenschaftlichen, schockierend öffentlichen Kusses ('Anna und Joachim am Goldenen Tor' von Giotto). Man fängt an zu lesen und mag nicht aufhören: Noch ein Absatz und noch ein Bild und noch eins. Staunend stellt man fest, wie sinnlich Religion sein kann. Das ist intellektuell anspruchsvoll, es hat Leichtigkeit, es provoziert neue Denkrichtungen. Man möchte weiter schauen und weiter denken, vor  allem, weil sich Wege zum wertschätzenden Verstehen öffnen. Kermani ist ein Brückenbauer, das ist klar: zwischen Sprachen, Kulturen, Zeiten, Religionen, Anschauungen, Traditionen - zwischen Menschen. Das brauchen wir heute, mit dieser Tiefendimension - mehr denn je. Ein wunderbares Buch, eine wunderbare Sprache.

 Margarete Hovestadt, Unterhaching

 

Navid Kermani "Ungläubiges Staunen. Über das Christentum"
C.H.Beck-Verlag, ISDN 978-3-406-68337-4, gebunden, 303 Seiten mit 49 farbigen Abbildungen, 24,95 Euro

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Die letzten Monate hatten es in sich: Austrittszahlen schnellen in die Höhe, in allen Kirchen – und das, obwohl aktuell keine wirklich neuen Skandale dazukommen. Und jedes Mal Klagen und Seufzen, rituelle Trauer und Schuldzuweisung, Ratlosigkeit auf allen Seiten – und natürlich auch Besserwisser.