Wort des Lebens Mai 2016

Es war von Anfang an Gottes Wunsch, unter uns, seinem Volk, zu wohnen. Schon die ersten Seiten der Bibel zeigen dies: Er steigt vom Himmel herab, geht im Garten spazieren und unterhält sich mit Adam und Eva. Hat er uns nicht dafür geschaffen? Was wünscht sich der Liebende mehr, als bei der Person zu sein, die er liebt? In der Offenbarung des Johannes, jenem Buch, das den Heilsplan Gottes entfaltet, wird deutlich, dass sich der Wunsch Gottes einmal voll und ganz verwirklichen wird.

Doch er hat schon damit begonnen, unter uns zu wohnen, als Jesus in die Welt kam, der Immanuel, der „Gott ist mit uns“ (Matthäus 1,23). Und seit seiner Auferstehung ist seine Gegenwart nicht mehr an Raum und Zeit gebunden, sondern ausgeweitet auf die ganze Welt. Eine neue, außergewöhnliche Gemeinschaft ist am Entstehen, ein Volk, das sich aus vielen Völkern zusammensetzt. Gott will nicht nur in meiner Seele wohnen, in meiner Familie, in meinem Volk, sondern unter allen Völkern, die zu diesem einen, neuen Volk gerufen sind.

Wir unterscheiden uns durch Hautfarbe, Kultur, Religion und betrachten einander oft mit Sorge, Misstrauen und Angst, ja bekriegen uns sogar. Und doch haben wir in Gott einen gemeinsamen Vater, der alle liebt. Er will nicht bei einem bestimmten Volk wohnen – wir denken da natürlich immer zunächst an das eigene – und andere Völker im Stich lassen. Für ihn sind wir alle Töchter und Söhne, eine einzige Familie.

Angeregt von diesem „Wort des Lebens“ sollten wir uns in diesem Monat darum bemühen, die Verschiedenheit zu schätzen, die anderen zu respektieren und als Personen zu betrachten, die zu mir gehören: Ich bin der andere, der andere ist ich, der andere lebt in mir, ich lebe im anderen. Das beginnt bei den Menschen, mit denen wir tagtäglich zu tun haben. Auf diese Weise können wir Raum schaffen für die Gegenwart Gottes unter uns. Er wird dann die Einheit schaffen und zugleich die Eigenheit eines jeden Volkes wahren.

In einem wirklich prophetischen, brandaktuellen Text hat Chiara Lubich dies bereits 1959 zum Ausdruck gebracht: „Der Tag, an dem nicht nur die einzelnen sich selbst vergessen, sondern ganze Völker samt den Vorstellungen, die sie von ihrem Vaterland haben ..., der Tag, an dem die Völker das Gebot der gegenseitigen Liebe leben, das für sie ebenso gilt wie für den einzelnen – dieser Tag wird der Beginn einer neuen Ära sein: An diesem Tag wird Jesus unter den Völkern leben und gegenwärtig sein ...

Für die Völker ist die Zeit gekommen, über die eigenen Grenzen hinauszublicken und das Vaterland des anderen so zu lieben wie das eigene. Wir müssen die anderen Völker mit neuen, reinen Augen sehen. Für einen Christen genügt es nicht mehr, von sich selbst losgelöst zu sein. Von denen, die heute Christus nachfolgen, wird mehr verlangt: ein Bewusstsein der sozialen Dimension des Christentums ...

Wir hoffen, dass der Herr Erbarmen hat mit dieser zerrissenen und verwirrten Welt, mit diesen in sich selbst verschlossenen Völkern. Sie scheinen nur die eigene Schönheit zu kennen, die doch begrenzt und unbefriedigend ist. Argwöhnisch hüten sie ihre Schätze, die doch anderen Völkern, in denen Menschen vor Hunger sterben, dienen könnten.

Wir hoffen, dass der Herr die Barrieren niederreißt, dass ein Strom der Liebe die Völker erfasst, dass es zu einem mächtigen Austausch geistiger und materieller Güter unter ihnen kommt.

Wir hoffen, dass Gott der Welt eine neue Ordnung gibt. Er allein vermag die Menschheit zu einer Familie zu machen und dabei die Besonderheiten der einzelnen Völker zu wahren und zur Entfaltung zu bringen. Denn wenn ein Volk sich in den Dienst der anderen stellt, wird seine Schönheit ein Abglanz des wahren Lichts und Lebens; das irdische Vaterland wird schön: ein Vorzimmer der ewigen Heimat.“1

Fabio Ciardi

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1 Chiara Lubich, Alle sollen eins sein. Geistliche Schriften, 2München 1999, S. 207–210.

 

 

© Alle Rechte an der deutschen Übersetzung beim Verlag NEUE STADT, München

Das „Wort des Lebens“ erscheint auch in der Monatszeitschrift NEUE STADT.
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